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Statt eines Nachrufs: ein Brief

Die in den Tagebüchern erwähnten Karten und Briefe von Curt und Marie sind leider nicht erhalten. Bewahrt wurde aber ein Brief, den der Kronprinz von Sachsen an Curt schrieb, als dieser im Sanatorium war. Der Prinz war wohl ein Regimentskamerad von Curt, aber nicht mit ihm an der Front. In seinem Brief versucht er Curt Trost zu spenden. Er schreibt diese Zeilen einen Monat vor dessen Tod, der wohl erahnt wird, da keine Genesungswünsche mehr formuliert werden, sondern nur der Wunsch, Curt möge sich dem „gütigen Willen“ Gottes ergeben.
Dies ist das einzige handschriftliche Dokument und soll darum zum Abschluss noch gezeigt werden.  [FvC]

3.8.2014,Seerose,Brief Kronprinz 013

29.11.16

Lieber C.!

Mit aufrichtiger Teilnahme hörte ich vor kurzem, daß Ihre Gesundheit leider nicht auf der Höhe ist.
Sie Armer haben wirklich viel durchzumachen – und ich nehme an Allem was Sie bedrückt und sorgt herzlichst wärmsten Anteil.
Ein Gedanke tröstet mich: daß Alles was sie während des Krieges gelitten haben, seelisch wie körperlich – und noch durchzumachen haben – Fügung des lieben Gottes ist zu Ihren und der Ihrigen Lasten. Das ist keine Phrase sondern meine tiefstinnerste, felsenfeste Überzeugung.
Die zahllosen Opfer, die Sie Gott darbringen, die Geduld und Ergebung in seinen Willen wird Ihnen der liebe Gott tausendfach entlohnen und entgelten.
Mit Innigkeit will ich den lieben Gott darum bitten, daß er Ihnen hilft, sich in seinen gütigen Willen zu ergeben.
Das ist das Einzige was ich bei der weiten Entfernung für Sie tun kann – es mir schmerzlich, für einen so lieben Kameraden wie Sie nur so wenig tun zu können.
Wenn ich Ihnen in irgendwas nützen könnte, so stehe ich von Herzen gern stets zur Verfügung. –

Mit unserem lieben Regiment war ich jetzt öfters in Fühlung. Ich habe dabei empfunden, wie Sie im Regiment weiterleben und wie gern man Sie hat.
Die Taten des Regiments sind wirklich ganz besonders  von anderen ganz hervorstechend – denn der alte Leibgrenadiergeist lebt noch in alter Frische und Schönheit im Regiment, – trotz über 2 Jahre Krieg.

Darf ich Sie bitten, mich Ihrer Gattin zu empfehlen und Ihre Kinder von mir zu grüßen.

mit den wärmsten Wünschen bin ich in treuer Anhänglichkeit
Ihr
Kronprinz Georg

3.8.2014,Seerose,Brief Kronprinz 018

Epilog [II]

Als Marie ihre Aufzeichnungen beendete, war der Krieg noch nicht vorbei.
Wie das Tagebuch berichtet, war bereits vor Ablauf des ersten Kriegsjahres Curt verwundet worden und seine beiden Brüder gefallen. Die Mutter der drei Brüder starb im zweiten Kriegsjahr, nur die Schwester Elsa überlebte den Ersten Weltkrieg; sie starb dann bei der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg am 13. Februar 1945.

Auch Marie konnte sich ihrer „herrlichen, aber auch schweren Lebensaufgabe“, nun ganz für ihre „Jungens“ zu leben, nur noch kurze Zeit widmen. Sie hatte sich wohl bei der Pflege Curts angesteckt und starb ein halbes Jahr nach dem ersehnten Kriegsende am 4. Mai 1919 in Tiengen. Sie wurde neben Curt in Dresden begraben.
Die vier Jungen wurden nach dem Tod beider Eltern alle gemeinsam von ihrer Tante und ihrem Onkel, Maries Schwester und Schwager, zu deren eigenen fünf Kindern aufgenommen und von ihnen großgezogen. Von den vier Söhnen Curts und Maries überlebten alle den Ersten, nur zwei von ihnen auch den Zweiten Weltkrieg.

Brueder gross

Die vier Söhne Curts und Maries als junge Männer. 

 

Epilog

Damit sind die Aufzeichnungen beendet. Wer hätte das je gedacht, dass sie so endigen würden. Hoffnungsvoll begann ich sie für Curt abzuschreiben. Das Ende dachte ich mir einst mit einer fröhlichen Rückkehr nach siegreichem Ende des entsetzlichen Krieges. Nun dauert der Krieg bereits das 4. Jahr. Curt ist von mir gegangen. Wann werden wir Frieden haben?

Ich schliesse diese Aufzeichnungen am 25. Oktober, am Jahrestag unserer vorjährigen gemeinsamen Abreise nach Wehrawald.

Dresden, am 25. Oktober 1917.

Was danach geschah [XI]

[2. bis 8. Januar 1917]
Dienstag den 2. Januar trat ich meine Heimreise an. Der gelbe Omnibus brachte mich früh gegen 1/2 9 nach Wehr. Von da auch fuhr ich mit einmaligem Umsteigen in Leopoldshöhe durch bis Frankfurt a.M. wo ich mit ziemlicher Verspätung gegen 7 ankam. Ich war sehr müde und hungrig, da auf der ganzen Fahrt weder Speisewagen noch irgend etwas zu essen gab. Meine Ernährung bestand aus einem Teil der Brotration meines Zimmermädchens vom Verwaltungsgebäude, etwas Cakes und Schokolade. Ich kam sehr gut in Frankfurt im Basler Hof, einem vorzüglichen christlichen Hospiz unter und übernachtete dort. Am nächsten Morgen gegen 8 Uhr fuhr ich weiter. In Leipzig kam ich gegen 4 Uhr an und wollte gegen 6 weiter fahren. Der Fahrplan war aber geändert worden und hatte ich gleich Anschluss. Müde und hungrig war ich diesmal auch. Ich war die ganze Zeit mit 5 Feldgrauen und noch einem jungen Mädchen gefahren. Der Zug war in Frankfurt so überfüllt gewesen, dass ich anfangs dachte, ich käme garnicht mit. Die Feldgrauen machten aber Platz. Meine Nahrung bestand an diesem Tag nur aus dem ersparten Brot und Chokolade und Cakes. Die Fahrt von Leipzig nach Dresden war nicht so überfüllt. Gegen 3/4 6 kam ich in Dresden an. Mutterseelenallein, niemand erwarte mich, da ich ja meine Ankunft von Frankfurt aus telegraphisch für 1/2 8 gemeldet hatte. Vom Bahnhof aus telephonierte ich auf die Hainstrasse, dass ich da sei. Vater kam gleich herüber. Ich wartete dann noch auf der Hainstrasse, bis mir Sch. eine Droschke versorgt hatte und fuhr dann mit Liesel zusammen nach Hause. Hoffnungsvoll hatte ich es mit Curt verlassen. Einsam und wehen Herzens sollte ich es wieder betreten. Wenn ich da meine Jungens nicht gehabt hätte. Diese Jungens, die mir nun alles sein mussten, ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre. Der Jubelruf meines kleinen Arndt: „Ich freue mich, ich freue mich!“ Es zerriss mir das Herz und doch, wie erleichterte es mir die Heimkehr. Mit diesem Augenblick sah ich mein Lebensziel klar vor mir. Ich durfte meinem Kummer mich nicht völlig hingeben. Meine Jungens, die mich 10 lange Wochen entbehrt hatten, brauchten mich nun doppelt. Ihnen musste ich in Zukunft alles sein. Curt, der auch nur für die Jungens lebte, hätte es wohl auch nie anders von mir erwartet. Der liebe Gott musste mir ja die Kraft zu dieser herrlichen, aber auch schweren Lebensaufgabe geben. Auch Mutter erwartete mich in der Wohnung, verliess mich dann aber bald.
Am Freitag, den 5. Januar traf die Leiche hier ein auf dem Hauptbahnhof und wurde abends von Vater und Onkel Paul nach dem Garnisonsfriedhof überführt.
Dort fand Montag, den 8. Januar die Beerdigung statt. Wie diese Stunde an mir vorüber gegangen ist, weiss ich heute nicht mehr. Ich war, wie im Traum. Es ist vielleicht segensreich von der Natur eingerichtet, dass man in solchen Stunden nicht klar denken kann. Man ist gleichsam nicht mehr selbst. Man führt ein Traumleben. Blumenbedeckt über und über so stand der Sarg, einfach und schlicht in der Halle. Ein jeder hatte ihn lieb gehabt. D. sprach so herrliche Worte. Dann brachten ihn seine Grenadiere heraus, durch seine spalierbildenden Grenadiere wurde er getragen. Noch ein kurzer Augenblick und der Sarg versank in der Tiefe. Eine Handvoll Blumen. – Es war vorbei. –

[Es folgen zwei Epiloge.]

Was danach geschah [X]

[31. Dezember 1916]
Ich verliess dann mit Doktor Sch. das Sterbezimmer und wurde von der Schwester in ihr Zimmer gebracht. Lange, lange Zeit hatte ich nur das Gefühl als ob ich das alles nicht erlebt, sondern nur geträumt hatte. Ich dachte, ich müsste wieder erwachen aus dunklem, schweren Traum. Es konnte ja nicht sein, dass alles vorbei war. Vorbei unser Zusammensein, meinen Jungen der Vater genommen. Mein Glück zerstört. –  Nun musste ich etwas tun. Ich schrieb Telegramme, die alle des Sonntags wegen erst zwischen 5 und 6 Uhr befördert wurden. Da ich sie aber dringend aufgab dachte ich, sie würden in Dresden noch abends ankommen. Sie sind aber alle erst am nächsten Tag angekommen. Dann ging ich zu Dr. L. mit dem ich alles Nötige wegen der Überführung u.s.w. besprach. Ich selbst beschloss Dienstag den 2. Januar abzureisen. Die Leiche sollte erst Mittwoch überführt werden. Auf dem Rückweg von L. traf ich Fräulein R. Sie war so lieb und gut. Ich durfte gleich ihr Zimmer benutzen und habe mich den ganzen Tag und auch den nächsten dort aufgehalten. Nachts musste ich im Verwaltungsgebäude schlafen. Frau H. und Fräulein R. waren abwechselnd immer bei mir. Ich habe beide so lieben und schätzen gelernt. Ihre rührende Sorge werde ich niemals vergessen. In solchen Stunden ist man ja doppelt dankbar für jedes Zeichen von Liebe. Am 1. Januar stand mir noch eine schwere Arbeit bevor. Das Packen unserer Sachen. Von meinem geliebten Curt hatte ich noch Sonntag gegen 5 Uhr einen letzten Abschied genommen.

[Der nächste Eintrag folgt am 2. Januar.]

Was danach geschah [IX]

[30. und 31. Dezember 1916]
Am 30. während des Mittagessens kam ein neuer und sehr starker Anfall von Atemnot und Erstickung. Die Fenster wurden weit aufgemacht, Dr. L., den ich holen liess, kam und machte eine Morphiumspritze. Nach einiger Zeit beruhigte sich der Anfall. Ich wusste aber mit dem Augenblick genau. Es war eine ernste Mahnung. Das Ende war nicht fern. Zitternd, bis ins Tiefste erschüttert verbrachte ich den Tag. Auf das Atmen lauschend, was immer lauter und beängstigender klang, je näher sich der Tag dem Ende zu neigte. Die Nacht begann. Ich schlief überhaupt nicht. Qualvoll war das Atmen zu hören. Betend faltete ich die Hände. Ich wusste ja, grösser als der Helfer ist die Not ja nicht. Dieses Wort hatte mir Tante Toni in einem Brief geschrieben, der gerade am 30. angekommen war. Ich flehte zum lieben Gott in meiner Herzensangst, erlöse ihn, lass ihn nicht mehr leiden, aber verleihe ihm Kraft, es zu ertragen.
Curt war in der Nacht sehr unruhig, immer wurde das Licht angedreht. Gegen 6 Uhr früh hatte er nach Frida geklingelt, er wolle Wasser haben. 1/2 7 Uhr verlangte er den Bademeister Gottfried, um sich abreiben zu lassen. Dieser kam auch und rieb ihn ab. Er schwitzte so sehr. Ich hatte in der Nacht tüchtige Migräne gehabt, die ich aber mit Aspirin vertrieben hatte. Um 9 Uhr besuchte uns L., dann verging der Morgen. Da Curt so sehr schwitzte überzogen wir ihm sein Bett frisch. Während des 2. Frühstücks begann wieder ein neuer Anfall. L., den ich holen liess sagte mir, ich solle nur Morphiumtropfen geben. Das tat ich auch und dann trat ein wenig Ruhe ein. Während ich Mittag ass schlief er etwas. Nach dem Essen kam die Schwester noch einmal herein und sagte mir, dass wenn sich der Anfall wiederholen würde Dr. L. sie beauftragt hätte eine Morphiumspritze zu machen. Ich legte mich nun ein wenig hin. Da gegen 2 Uhr kam ein neuer Anfall. Ich liess die Schwester kommen, die ihm auf sein Flehen eine Morphiumspritze machte. Er sprach noch seine Verwunderung aus, wie wenig das Morphium beruhigte, dass er nicht schlafen könne. Dann verliess uns die Schwester, schickte mir aber auf mein Bitten die Frida. Kaum war diese im Zimmer so erneuerte sich der Anfall. In diesem Augenblick fing Curt sich an zu verändern, die linke Hand und die Stirn wurden blau. Es war furchtbar. Bis kurz vorher hatte er noch über die furchtbaren Schmerzen in seinem Bein geklagt. Wir mussten ihn in den letzten zwei Tagen deshalb oft umbetten. Als die Veränderung eintrat bat ich das Mädchen mir um Gottes Willen die Schwester zu holen. Nach mir endlos erscheinender Zeit kam diese schliesslich, verliess uns aber gleich wieder um den Doktor zu holen. Curt sprach jetzt schon nicht mehr. Als Doktor Sch. das Zimmer betrat sagte er gleich, hier sei nichts mehr zu machen. Er veranlasste mich, dass ich mich hinsetzte. Ich tat das auch, sah ich doch selber ein, dass ich nun Curt nichts mehr helfen konnte.
Nach ungefähr 10 Minuten war der furchtbare Todeskampf ausgekämpft. Ein letztes Bewegen des Kopfes, ein letztes Seufzen. –
Curt hatte ausgelitten. – Es war 3/4 3.

Was danach geschah [VIII]

[25. bis 29. Dezember 1916]
Die Weihnachtssendung der Kinder kam erst am 1. Feiertag an. Die darin befindlichen Bilder der Jungens hatte ich für Curt als Überraschung bestellt. Er freute sich darüber hatte sie eine Weile in den Händen und legte sie dann wieder fort. Er hat sie wohl kaum wieder mit Bewusstsein angesehen. Ich ging am 1. Feiertag früh in den Damensalon, dort fand Gottesdienst statt. Der Geistliche war dazu aus St. Blasien gekommen. Der Gottesdienst begann aber eine halbe Stunde später da der Geistliche des Glatteises wegen den Berg zum Sanatorium schlecht raufkam. Nach dem Gottesdienst frühstückte ich und besuchte dann Frau H., die mir ihre Bescheerung zeigte. Die nächsten Tage verliefen leidlich. Am 27. Dezember erneuerte Curt sogar sein Urlaubsgesuch und schrieb einen Brief an Leutnant S. Wie freute ich mich über dies erneute Zeichen seiner Teilnahme. Ich war ja so bescheiden geworden. Denn sonst lag er ja sehr apatisch und meist schlafend durch das Morphium. Die folgenden Tage bekam er zeitweilig leichte Beklemmungen, die mich stets sehr ängstigten. „Jetzt“ dachte ich oft, „jetzt kommt das Schreckliche, Unabwendbare!“ Angsterfüllt sass ich am Bette und lächelte, beruhigte und half, soviel überhaupt zu helfen war. Dann schlief er meistenteils ein und ich beobachtete von meinem Liegesofa aus jeden Atemzug, jede Bewegung. Das Greifen der Hände auf der Bettdecke, was einem Sterbenden eigen sein soll und auch ist.

Was danach geschah [VII]

[etwa 9. bis 24. Dezember 1916]
Von nun an begannen furchtbare Tage. Die Reaktion nach dem Brennen war sehr stark, dazu das zunehmende Leiden. Es war qualvoll mit anzusehen […]. Dazu der quälende Husten […]. Es war wirklich übermenschlich. Das Jammern von Curt: „womit habe ich das verdient?“ schnitt mir ins Herz. Mein Herzblut hätte ich dahin gegeben, hätte ich ihm helfen können. Wir alle waren machtlos. Am 3. Tage nach meiner Rückkehr hatte ich eine längere Unterredung mit L., da ich den Gedanken erwog heimzureisen um Curt zu seinen Jungs zu bringen. er hatte dies in Freiburg ausgesprochen, er habe Angst die Jungen nicht mehr wieder zu sehen, er wolle bei ihnen sterben. –
L. riet in diesem Falle zu einer schnellen Abreise. Da aber Curt immer die Hoffnung hatte wieder gesund zu werden und dies auch gelegentlich aussprach, mussten wir den Gedanken fallen lassen. Ich glaube auch noch hinterher, es war das Richtige. Vor allen Dingen, da L. mir gesagt hatte, dass ich ihn hätte in Dresden in ein Krankenhaus bringen müssen. Da war es doch besser zu bleiben, denn durch nichts gestört konnte ich ihn dort vollkommen pflegen und ihm alle Wünsche erfüllen. Am 11. Dezember frug Vater telegraphisch an, ob sein Kommen erwünscht sei. Ich telegraphierte erst ab, da ich für Curt die Aufregung befürchtete. Ich riet zunächst brieflich vorzubereiten, dass er kommen wolle. War aber schliesslich doch ganz froh, als Vater sich telegraphisch für den 16. Dezember ansagte. Curt nahm dies alles teilnahmslos hin. Die Schluckbeschwerden waren eine Kleinigkeit besser, die Brandwunden schienen zu heilen, aber das Allgemeinbefinden war schlecht. die Nächte schlief er nur mit Mitteln, anfangs Pantonponeinspritzen, später Morphiumspritzen. Vater fand Curt sehr verändert, war aber nicht überrascht oder erschrocken darüber. Er war durch meine Briefe und meine Erzählung schon darauf vorbereitet. Curt frug ihn auch mit schwacher Stimme nach allerlei. Vater war sehr begeistert über unseren Aufenthalt. Es war auch geradezu ideal schön. So etwas von einer Schneepracht kann man sich hier bei uns überhaupt nicht vorstellen, die herrlichen Schwarzwaldtannen brachen fast unter der Schneelast. Für den Tag nach seiner Ankunft hatte sich Vater bei L. in der Sprechstunde angesagt. L. hat ihm da klar gesagt, wie es um Curt stünde, dass er seiner Meinung nach das neue Jahr nicht mehr überleben würde. Das hat mir Vater natürlich erst später erzählt.
Vorläufig wurde nur zum Abschluss gebracht, was ich vorher schon mit L. besprochen hatte, dass wir in ein grösseres Zimmer übersiedeln sollten. Es tat mir in einer Beziehung leid, da Käthe, das Zimmermädchen ein grossartiges Wesen war, da sie schon 15 Jahre im Sanatorium war, völlig erfahren in Krankenpflege. Aber der Umzug war nötig der besseren Luft halber. Ich konnte in einer grösseren Stube auch nachts die Fensterklappe oben offen lassen. Wir zogen am 18. Dezember herauf in den 3. Stock Zimmer 53. Ein Riesenzimmer nach Südwesten gelegen, herrlich sonnig, mit einem Balkon. Zu dieser Übersiedlung war Curt schon so schwach, dass er auf einer Tragbahre heraufgetragen werden musste. Vater reiste am 19. Dezember früh wieder ab. In der Nacht sagte Curt: „Am liebsten führe ich morgen mit Vater fort.“ Hätte er dies den Tag vorher gesagt, man hätte es vielleicht doch gemacht. –

Für mich war jedenfalls Vaters Besuch eine grosse Freude gewesen und war es so schön mal alles mündlich besprochen zu haben. Nach Vaters Abreise kamen wieder ein paar leidliche Tage, sodass in mir immer wieder eine ganz schwache Hoffnung auftauchte, dass das geliebte Leben mir doch noch erhalten bleiben könnte. Dabei wusste ich es ja zu genau, dass dies nicht möglich sein konnte, aber man klammert sich so gern an einen Hoffnungsstrahl. Heilig Abend kam heran! – Wie namenlos weh war mir ums Herz. Fern von den Jungens, am Bett meines schwerkranken Mannes. Im Laufe des Nachmittags des 24. brachte Frau Dr. L. mit ihren Jungen ein kleines Bäumchen mit Silberketten geschmückt und Lichtern daran. Vor Beginn des Abendessens fand im Speisesaale des Sanatoriums eine Feier statt. Sie bestand darin, dass die Saaltöchter mit Harmoniumbegleitung Stille Nacht und O Du fröhliche sangen. Manches Auge schwamm in Tränen, die Sehnsucht nach der Heimat wird in solchen Augenblicken doppelt wach gerufen. Dann setzten sich alle an die weihnachtlich geschmückte Tafel. Ich ging wieder zu meinem Curt herauf. Ich brannte mit ihm das Bäumchen an vor dem Abendessen, und gab ihm noch mein Geschenk einen Kasten mit einem Auerhahn. Er sah sich den Lichterbaum eine Weile an, dann winkte er mir, die Lichter auszulöschen. Das war unser Weihnachten. Namenlos schwer, und doch – er lebte noch, war bei mir, ich konnte an seinem Bette sitzen. Nicht einmal das werde ich wieder haben können.

Was danach geschah [VI]

[7. bis etwa 9. Dezember 1916]
Am nächsten Morgen ging es so schlecht, dass es mir selbst fast unmöglich schien zu fahren. Unsere Koffer hatte ich am Tage vorher schon aufgegeben. Ich musste einen Zwang haben zu reisen. Auch K. zweifelte an seiner Reisefähigkeit. Ich sagte mir schliesslich, dass nach dem Urteil K.s der Fall so hoffnungslos stände, dass ein Bleiben keine heilsame Wirkung, eine Abreise keine schädliche Wirkung haben könnte. Dagegen, wenn die Reise ausgeführt würde uns wir wieder in Wehrawald seien, dem Kranken Erleichterung durch die herrliche Luft werden könnte. Ausserdem würde ihn die reizende Umgebung seelisch erfrischen. Kurzum, wir reisten! –
Wir kamen in Leopoldshöhe an. Das Umsteigen ging mühsam. Ein Landsturmmann brachte ihn die Treppe herauf. Wir kamen in Wehr an. Kein Auto da. Eine mir endlos scheinende halbe Stunde warteten wir im Restaurant. Die Schwäche bei Curt nahm zu. Was nun? Da kam das Auto! – Glücklicher Weise das Privatauto. Ausser uns fuhren nur noch 2 weibliche Wesen mit. Wir fuhren durch schönen dicken Schnee, der in der Gegend lange liegen bleibt. Mit viel Verspätung kamen wir gegen 1/4 6 in Todtmoosort an. An der Post erwartete uns der bestellte Wagen, dessen Kutscher ein junger Bursche ein wenig zu viel getrunken hatte. Der Sicherheit halber liess ihn Curt vom Bock absteigen, damit er nicht einschlief. Endlich landeten wir am Sanatorium. Wir fuhren mit Aufzug in den 2. Stock und bezogen dort Zimmer 32. Ein kleineres, sonniges Zimmer mit schönem Balkon. Curt wurde gleich zu Bett gebracht. Er war ganz fertig. Temperatur 38,7. L. besuchte uns noch denselben Abend.

Was danach geschah [V]

[25. November – 6. Dezember 1916]
Am 25. früh musste ich gegen 1/4 7 aufstehen, da noch allerlei Reisevorbereitungen waren. Dann weckte ich Curt, dem das Anziehen viel Atemnot bereitete. Gegen 8 Uhr kam der Wagen, der uns bis an die Post fahren sollte. Wir verabschiedeten uns von Frieda, dem Zimmermädchen und fuhren fort. An der Post mussten wir lange warten. Der Autolenker hatte nie Eile. Da es aber ein ideal schöner Gebirgsmorgen war, konnten wir ruhig auf der Bank am Wartehäuschen warten. Dann endlich ging es los. Die Autofahrt war Curt sehr unangenehm wegen des starken Benzingeruches. Der übrige Teil der Reise ging über Erwarten gut. Da Curt keine Temperatur hatte war er ganz frisch. Um ein Uhr kamen wir in Freiburg an und fuhren mit Droschke nach der Klinik von Professor K. Dort ahnte kein Mensch etwas von unserer Ankunft. Erst begriffen wir das nicht, da wir doch angesagt waren. Dann stellte sich aber heraus, dass Professor K. nur die Anfrage von Dr. L. bekommen hatte, unsere Ansage, dass wir Sonnabend kämen aber noch nicht in seine Hände gekommen, da er den Tag verreist war. Nach längerem Hin und Her wurden wir schliesslich in das sogenannte Carolushaus geführt, wo wir Unterkommen fanden. Da wir garnicht ahnten, wie sich unser weiterer Aufenthalt gestalten würde, nahmen wir ein einfaches Zimmer zu dem billigen Preise für 2 Personen den Tag Zimmer mit Pension 9 M. Das Carolushaus würde ich als eine Art Hospiz bezeichnen, gehörend zu dem Mutterhaus, natürlich alles katholisch. Zwischen beiden Häusern war die Klosterkirche. Professor K. konnte ich schliesslich nach vieler Mühe erst am Sonntag den 26. früh telephonisch erreichen. Er bestellte uns gegen 11 in seine Sprechstunde. Da er den Tags nichts weiter machen wollte, bestellte er uns am nächsten Tag um 12, um den Kehlkopf zu brennen. Dasselbe, was L. schon gemacht hatte. Um 12 wurde es aber zu spät und machte er die Sache um 5 Uhr. Anschliessend ging Curt bald ins Bett. Die ganze Nacht hatten wir Nachtwache, weil Curt eine sogenannte Eisschlange um den Hals hatte, die ihm Kühlung bringen sollte. K. war an dem nächsten Tage sehr zufrieden. Überhaupt ging es Curt in diesen Tagen so hübsch, dass ich voller Freude nach Hause schrieb, dass ich hoffte, dass wir endlich vorwärts kämen. Er ass sogar einmal Schweinebraten mit Sauerkraut. Er hatte keine Temperatursteigung, schrieb Briefe und war überhaupt sehr heiter, lachte sogar gelegentlich mal so herzlich, wie nur er lachen konnte.
Ich hatte inzwischen an Dr. L. geschrieben, dass wir Freitag, den 1. September [muss wohl Dezember heißen, F.] gern wieder nach Wehrawald kommen wollten, bekamen aber die Antwort, dass kein Zimmer frei sei, er würde uns sofort benachrichtigen, wenn dies der Fall sein würde. Mir war das sehr unangenehm, denn ich wäre froh gewesen Freiburg mit dem Kranken bald verlassen zu können, die ständige Fliegergefahr war mir ungemütlich. Gottlob haben wir nichts erlebt. Einmal wurde Alarm geschossen, es kamen aber keine. Einmal sah ich auch ein sehr interessantes Flugmanöver von 20 deutschen Fliegern, sie schossen mit Schrappnells. Curt hatte das Schiessen gehört und hatte sich um mich geängstigt, da ich unterwegs war. Beim Nachhausekommen konnte ich ihn beruhigen und ihm alles erzählen. Einmal, als ich gerade auf einem alten Friedhof war um mir dort alte Grabdenkmäler anzusehen, hörte ich einen Flieger. Da ich durch die hohe Kirchhofsmauer das Gelände nicht übersehen konnte, zog ich doch vor rauszugehen und wieder in geschlossene Häuserreihen zurückzukehren um zur Not einen Keller als Zufluchtsort zu haben. In dem Fall war es auch ein deutscher Flieger.
Gegen Ende der Woche also am 1. Dezember trat bei Curt wieder ein Temperatursteigung ein, der Husten verschlimmerte sich und waren die Nächte sehr gestört. Ich schrieb noch einmal an L., dass ich unbedingt fort wolle, da Curt wohl die Luft, vor allen Dingen der ständige Nebel nicht bekäme. Denn die Pflege war sonst glänzend. Schwester Alba aufopfernd. Da der Zustand immer schlechter wurde, telegraphierte ich am 4. Dezember noch einmal. Endlich, am 5. Dezember bekam ich die Antwort, dass wir am Donnerstag, den 7. erwartet würden.
Nun war noch meine Angst, ob es überhaupt noch möglich sein würde Curt fortzubringen. Aber fort wollte ich. Ich hatte nur immer die Unruhe: fort, nur fort. Ich sprach noch den Abend vor unserer Abreise K., der den Zustand als sehr ernst bezeichnete, eine Operation wäre nicht mehr möglich gewesen, da das Leiden zu weit fortgeschritten sei. Aber man dürfe die Hoffnung nicht aufgeben. Diese Aussprache fand vor unserer Stube Nr. 23 statt. Angeblich hatte ich mir ein Mittel für die Reise geben lassen wollen. Heiteren Gesichts betrat ich die Krankenstube. – Heiter war ich auch den ganzen Abend. – Man kann alles, wenn man es einem geliebten Menschen zu Liebe tun muss. –