[etwa 9. bis 24. Dezember 1916]
Von nun an begannen furchtbare Tage. Die Reaktion nach dem Brennen war sehr stark, dazu das zunehmende Leiden. Es war qualvoll mit anzusehen […]. Dazu der quälende Husten […]. Es war wirklich übermenschlich. Das Jammern von Curt: „womit habe ich das verdient?“ schnitt mir ins Herz. Mein Herzblut hätte ich dahin gegeben, hätte ich ihm helfen können. Wir alle waren machtlos. Am 3. Tage nach meiner Rückkehr hatte ich eine längere Unterredung mit L., da ich den Gedanken erwog heimzureisen um Curt zu seinen Jungs zu bringen. er hatte dies in Freiburg ausgesprochen, er habe Angst die Jungen nicht mehr wieder zu sehen, er wolle bei ihnen sterben. –
L. riet in diesem Falle zu einer schnellen Abreise. Da aber Curt immer die Hoffnung hatte wieder gesund zu werden und dies auch gelegentlich aussprach, mussten wir den Gedanken fallen lassen. Ich glaube auch noch hinterher, es war das Richtige. Vor allen Dingen, da L. mir gesagt hatte, dass ich ihn hätte in Dresden in ein Krankenhaus bringen müssen. Da war es doch besser zu bleiben, denn durch nichts gestört konnte ich ihn dort vollkommen pflegen und ihm alle Wünsche erfüllen. Am 11. Dezember frug Vater telegraphisch an, ob sein Kommen erwünscht sei. Ich telegraphierte erst ab, da ich für Curt die Aufregung befürchtete. Ich riet zunächst brieflich vorzubereiten, dass er kommen wolle. War aber schliesslich doch ganz froh, als Vater sich telegraphisch für den 16. Dezember ansagte. Curt nahm dies alles teilnahmslos hin. Die Schluckbeschwerden waren eine Kleinigkeit besser, die Brandwunden schienen zu heilen, aber das Allgemeinbefinden war schlecht. die Nächte schlief er nur mit Mitteln, anfangs Pantonponeinspritzen, später Morphiumspritzen. Vater fand Curt sehr verändert, war aber nicht überrascht oder erschrocken darüber. Er war durch meine Briefe und meine Erzählung schon darauf vorbereitet. Curt frug ihn auch mit schwacher Stimme nach allerlei. Vater war sehr begeistert über unseren Aufenthalt. Es war auch geradezu ideal schön. So etwas von einer Schneepracht kann man sich hier bei uns überhaupt nicht vorstellen, die herrlichen Schwarzwaldtannen brachen fast unter der Schneelast. Für den Tag nach seiner Ankunft hatte sich Vater bei L. in der Sprechstunde angesagt. L. hat ihm da klar gesagt, wie es um Curt stünde, dass er seiner Meinung nach das neue Jahr nicht mehr überleben würde. Das hat mir Vater natürlich erst später erzählt.
Vorläufig wurde nur zum Abschluss gebracht, was ich vorher schon mit L. besprochen hatte, dass wir in ein grösseres Zimmer übersiedeln sollten. Es tat mir in einer Beziehung leid, da Käthe, das Zimmermädchen ein grossartiges Wesen war, da sie schon 15 Jahre im Sanatorium war, völlig erfahren in Krankenpflege. Aber der Umzug war nötig der besseren Luft halber. Ich konnte in einer grösseren Stube auch nachts die Fensterklappe oben offen lassen. Wir zogen am 18. Dezember herauf in den 3. Stock Zimmer 53. Ein Riesenzimmer nach Südwesten gelegen, herrlich sonnig, mit einem Balkon. Zu dieser Übersiedlung war Curt schon so schwach, dass er auf einer Tragbahre heraufgetragen werden musste. Vater reiste am 19. Dezember früh wieder ab. In der Nacht sagte Curt: „Am liebsten führe ich morgen mit Vater fort.“ Hätte er dies den Tag vorher gesagt, man hätte es vielleicht doch gemacht. –
Für mich war jedenfalls Vaters Besuch eine grosse Freude gewesen und war es so schön mal alles mündlich besprochen zu haben. Nach Vaters Abreise kamen wieder ein paar leidliche Tage, sodass in mir immer wieder eine ganz schwache Hoffnung auftauchte, dass das geliebte Leben mir doch noch erhalten bleiben könnte. Dabei wusste ich es ja zu genau, dass dies nicht möglich sein konnte, aber man klammert sich so gern an einen Hoffnungsstrahl. Heilig Abend kam heran! – Wie namenlos weh war mir ums Herz. Fern von den Jungens, am Bett meines schwerkranken Mannes. Im Laufe des Nachmittags des 24. brachte Frau Dr. L. mit ihren Jungen ein kleines Bäumchen mit Silberketten geschmückt und Lichtern daran. Vor Beginn des Abendessens fand im Speisesaale des Sanatoriums eine Feier statt. Sie bestand darin, dass die Saaltöchter mit Harmoniumbegleitung Stille Nacht und O Du fröhliche sangen. Manches Auge schwamm in Tränen, die Sehnsucht nach der Heimat wird in solchen Augenblicken doppelt wach gerufen. Dann setzten sich alle an die weihnachtlich geschmückte Tafel. Ich ging wieder zu meinem Curt herauf. Ich brannte mit ihm das Bäumchen an vor dem Abendessen, und gab ihm noch mein Geschenk einen Kasten mit einem Auerhahn. Er sah sich den Lichterbaum eine Weile an, dann winkte er mir, die Lichter auszulöschen. Das war unser Weihnachten. Namenlos schwer, und doch – er lebte noch, war bei mir, ich konnte an seinem Bette sitzen. Nicht einmal das werde ich wieder haben können.